Die Schweiz und Europa – Erneuern, was sich bewährt hat
Zürich, 11.11.2025 — Rede von Bundesrat Ignazio Cassis, Vorsteher des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) anlässlich des Podiums Schweiz-EU des Tagensanzeigers in Zürich – Es gilt das gesprochene Wort
Geschätzte Damen Nationalrätinnen Mattea Meyer und Monika Rüegger,
Herr Präsident der KdK, lieber Markus Dieth,
geschätzte Anwesende
Die Schweiz ist ein Land im Herzen Europas. Umgeben von der Europäischen Union.
Auch wenn wir selbst nicht Mitglied sind, treiben wir Handel mit ihr, arbeiten, studieren und pflegen kulturellen Austausch.
Wenn es unseren Nachbarn schlecht ging, ging es auch uns schlecht. Ihre Probleme waren meist auch unsere Probleme. Und wenn sie bedroht waren, waren auch wir betroffen.
Wir sind nicht nur Nachbarn – wir sind Teil derselben Schicksalsgemeinschaft.
Deshalb war und ist die Qualität unserer Beziehungen zu Europa immer entscheidend:
Für unseren Wohlstand, unsere Sicherheit und letztlich für unsere Lebensqualität.
Und vielleicht wird gerade deshalb über kein anderes Thema so leidenschaftlich gestritten wie über unser Verhältnis zu Europa.
Das war bereits 1972 so, als wir über das Freihandelsabkommen mit der EWG abstimmten.
Es war 1992 so, beim Nein zum EWR.
Es war 1999 so, beim Ja zu den Bilateralen.
Und es war 2002 so, beim Nein zum EU-Beitritt.
Es ist ein ständiges Seilziehen zwischen Abgrenzung und Zusammenarbeit.
Aus diesem Seilziehen sind die Bilateralen Verträge entstanden – eine massgeschneiderte Lösung für die Schweiz.
Sie sind zum Königsweg für unser Land geworden, weil sie beides vereinen:
unseren Anspruch auf Souveränität und
unser Streben nach Wohlstand.
Jede andere Option wäre schlechter - und politisch nicht mehrheitsfähig.
Dank diesem Weg konnten wir gezielt am europäischen Binnenmarkt teilnehmen, Innovation fördern, Arbeitsplätze schaffen, die Stabilität sichern.
Als der Bundesrat 2021 das Rahmenabkommen beendete – weil es sich als der falsche Ansatz herausstellte – war rasch klar:
Der bilaterale Weg soll weitergehen.
Wir stellten uns deshalb die typischste aller Schweizer Fragen:
Was müssen wir ändern, damit alles so bleibt, wie es ist?
Denn die EU hat uns klar zu verstehen gegeben: Sie lässt uns nur dann weiter am Binnenmarkt teilnehmen, wenn unsere Verträge und die Regeln des Binnenmarktes Schritt halten.
Dass die EU das ernst meint, wissen wir: Seit 2018 werden die Verträge nicht mehr aktualisiert. Besonders die Medtech-Branche und unsere Hochschulen spüren, was das bedeutet.
Gestern konnten wir mit der EU wieder eine Einigung zur Schweizer Teilnahme an den europäischen Forschungs- und Bildungsprogrammen unterzeichnen.
Das ist ein wichtiger Erfolg für die Schweiz. Es ist aber auch ein Bekenntnis der EU zur Schweiz als Partner auf Augenhöhe.
Dieses Beispiel zeigt: Ohne die EU als Partner wird der Bilaterale Weg zum Monolauf (Sololauf).
Unsere Möglichkeit «à la carte» am europäischen Binnenmarkt teilzunehmen, wird nach und nach verschwinden.
Und damit ginge auch die einzige mehrheitsfähige Grundlage verloren, auf der wir unsere Beziehungen zur EU langfristig sichern können.
Natürlich kann man sich darüber ärgern, dass die EU den Status quo nicht mehr mitträgt.
Aber, meine Damen und Herren: In der Aussenpolitik hat «Sich-Ärgern» noch nie eine Lösung gebracht.
Wir müssen akzeptieren: Auch andere Staaten haben Interessen – und für Verträge braucht es nun mal immer zwei.
Genau deshalb hat der Bundesrat im Juni dieses Jahres ein neues Paket von Abkommen mit der Europäischen Union verabschiedet.
Wir erneuern die Bilateralen Verträge, damit sie bleiben, was sie immer waren:
ein pragmatischer Kompromiss zwischen Identität, wirtschaftlicher Vernunft und geografischer Realität.
Geschätzte Damen und Herren, was bringt dieses Paket konkret?
Es bringt Stabilität und Planbarkeit – mit klaren Regeln für die Teilnahme am europäischen Binnenmarkt.
Die Personenfreizügigkeit bleibt, was sie ist:
eine Freizügigkeit für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – nicht für alle Bürgerinnen und Bürger der EU.
Es erneuert den Schutz der Schweizer Löhne und führt eine Schutzklausel bei der Zuwanderung im Rahmen der Personenfreizügigkeit ein.
Es öffnet erneut die Türen zur wissenschaftlichen Zusammenarbeit. Das ist für unsere Hochschulen von zentraler Bedeutung. Die Schweiz soll auch weiterhin Nummer eins in der weltweiten Innovation bleiben.
Und ganz wichtig:
Unsere direkte Demokratie bleibt erhalten!
Neu hinzu kommen Bereiche, die für die Zukunft entscheidend sind: Strom und Gesundheit.
Zudem regeln wir zwei institutionelle Fragen:
– die Anpassung der Regeln für die Teilnahme am Markt (die sogenannte dynamische Rechtsübernahme),
– und die Streitbeilegung (abschliessend durch das Schiedsgericht).
Die Rechtsübernahme erfolgt dynamisch, nicht automatisch, also stets unter parlamentarischer und direktdemokratischer Kontrolle.
«Dynamisch» heisst: nur mit informierter Zustimmung der Schweiz.
Und sie ist klar abgegrenzt: Wir wissen genau, was Teil dieser dynamischen Rechtsübernahme ist – und was nicht.
Mit der Streitbeilegung wird einzig ein paritätisch besetztes, unabhängiges Schiedsgericht künftig Streitfälle beilegen.
Für die Auslegung der nationalen Gesetzgebung bleiben hingegen die jeweiligen Gerichte zuständig – also das Bundesgericht in der Schweiz und der Europäische Gerichtshof in der EU.
Geschätzte Damen und Herren,
die Welt befindet sich an einem historischen Wendepunkt: Kriege, Handelsblöcke und Rivalitäten zwischen Grossmächten verändern unsere Gewissheiten.
Das Recht des Stärkeren drängt wieder in den Vordergrund. Die internationale Ordnung der Nachkriegszeit gerät ins Wanken.
In dieser Phase globaler Umbrüche kann die Schweiz nicht stillstehen.
Der Bundesrat muss die Grundlagen unserer Prosperität stärken – also jene Abkommen, die unsere Beziehungen mit der Welt regeln.
Unsere Stärke liegt weder in militärischer Macht noch in Bevölkerungsgrösse, sondern in unserer Glaubwürdigkeit, unserer institutionellen Stabilität und der Qualität unserer Verträge.
Unser wichtigster Partner bleibt bei weitem die Europäische Union: Allein im Warenhandel beläuft sich auf rund 300 Milliarden Franken – jedes Jahr. Das heisst: In den zwei Stunden, die wir hier sind, wechseln 70 Millionen Franken den Besitzer.
Man kann es einfach ausdrücken:
Für jedes Zwei-Franken-Stück, das wir in der Tasche haben, hängen fünfzig Rappen von Europa ab.
Das zeigt: Diese Beziehung ist kein Detail, sondern die Basis unseres Wohlstands.
Natürlich sind auch die USA und China wichtige Partner. Aber die Zahlen sprechen für sich: Mit den USA handeln wir etwa ein Fünftel dessen, was wir mit der EU austauschen – mit China gerade einmal ein Zehntel.
Und man darf nicht vergessen: Der europäische Binnenmarkt ist der grösste der Welt – 450 Millionen Menschen, 16'000 Milliarden Euro an Wirtschaftsleistung.
Für eine Schweiz im Herzen des Kontinents ist es keine Option, am Rand zu stehen.
Liebe Anwesende,
für den Bundesrat ist die Stabilisierung unserer Beziehungen zur EU kein politischer Luxus, sondern eine strategische Notwendigkeit – für unseren Wohlstand und unsere Sicherheit in einer Welt, die aus den Fugen geraten scheint.
Wir erreichen dieses Ziel nicht mit Experimenten, sondern indem wir erneuern, was sich bewährt hat:
Wir führen den bilateralen Weg weiter – pragmatisch, selbstbestimmt und zukunftstauglich.
Oder, um es mit einem arabischen Sprichwort zu sagen:
«Wer in Frieden mit seinem Nachbarn lebt, schläft ohne Furcht.»
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.