Eröffnung der School of Public Policy: Excel trifft Word
Zürich, 21.10.2025 — Rede von Bundesrat Ignazio Cassis, Vorsteher des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) anlässlich der Gründung der Albert Einstein Schule - Es gilt das gesprochene Wort
Geschätzte Damen und Herren,
es ist mir eine grosse Freude, heute anlässlich der Gründung der Albert Einstein School of Public Policy zu Ihnen sprechen zu dürfen.
Albert Einstein war nicht nur ein genialer Physiker, sondern auch ein Querdenker in gesellschaftlichen Fragen.
1949 schrieb der Nobelpreisträger in einem Aufsatz, dass «Politik schwieriger sei als Physik».
Einstein wusste: Das Lösen menschlicher Probleme ist ungleich komplizierter als das Entziffern von Naturgesetzen –
weil es dabei nicht um Gewissheiten geht, sondern um Werte, Interessen und Verantwortung.
Ihm dieses Institut zu widmen, scheint mir sehr würdig.
Die Pandemie als Ausgangspunkt
Zur Einstimmung auf den heutigen Anlass hat mir Walter Thurnherr von seinem bald erscheinenden Buch erzählt.
Diese Erzählung versetzte mich zurück in die turbulente Anfangszeit der Covid-Pandemie.
Als Arzt wusste ich, wie sich Viren verbreiten – für viele im Bundesrat war das damals Neuland.
Mir war sofort klar: Wir müssen die Wissenschaft einbeziehen.
Nur – der Entscheid kam nicht ganz so schnell.
Braucht die Politik wirklich Wissenschaft?
Man begann vorsichtig – mit Epidemiologen.
Bis man merkte: Es gibt ja auch noch andere Disziplinen.
Wir Bundesräte suchten Erkenntnisse, Wissen und Wahrheit – und damit bessere Entscheidungen.
Was wir fanden, war jedoch vor allem eines: Komplexität.
Die Hoffnung, dass uns in jener aufgeheizten Zeit die Wissenschaft manche Entscheidung erleichtern würde, erwies sich als Illusion.
Denn sie konnte weder die Erwartungen der Politik noch jene der Gesellschaft erfüllen – schlicht, weil das niemand konnte.
Und so entbrannten hitzige Debatten über die Rolle und den Auftrag der Wissenschaft in der Politik.
Mehr verrate ich jetzt nicht – und empfehle die Lektüre des Buches.
Von welchem ich übrigens ein signiertes Exemplar erwarte.
Rückblick und Lehren
Rückblickend war die Pandemie ein Stresstest für die Beziehung zwischen Wissenschaft und Politik.
Es lohnt sich, gedanklich in diese Zeit zurückzukehren und zu fragen:
Was haben wir richtig gemacht? Was falsch? Und was würden wir heute anders tun?
Viele der damals emotionalsten Momente sind heute kaum mehr nachvollziehbar.
Bei manchen Entscheidungen taten wir uns unnötig schwer – andere fällten wir erstaunlich leicht, wenn man die Folgen bedenkt.
Heute, mit mehr Wissen und Abstand, sähe manches wohl anders aus.
Doch entscheidend ist weniger, was wir entschieden haben – sondern wie.
Die Pandemie zeigte: Der Umgang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen und mit Ungewissheit muss in normalen Zeiten geübt werden – damit er in der Krise funktioniert.
Zwei Welten: Wissenschaft und Politik
Das sage ich als ehemaliger Wissenschaftler und heutiger Politiker – also jemand, der beide Welten aus eigener Erfahrung kennt:
die nüchterne Logik wissenschaftlicher Methoden und die oft unberechenbare Dynamik der Politik.
Gerade deshalb weiss ich, wie wichtig es ist, Brücken zwischen diesen beiden Sphären zu schlagen.
Ich erlaube mir, es etwas plakativ zu sagen:
Forschende sind eher «Excel-Typen» –
sie arbeiten mit Daten, Tabellen und Modellen.
Sie stellen bestehende Wahrheiten infrage und nähern sich neuen Erkenntnissen Schritt für Schritt –
für sie ist Wahrheit immer relativ zum aktuellen Wissensstand.
Politiker dagegen sind eher «Word-Typen» –
sie arbeiten mit Geschichten, Narrativen und Deutungen.
Sie suchen nach Wahrheit – und schaffen sie durch ihre Entscheidungen.
Für sie ist Wahrheit etwas Absolutes.
Wahrheit und Erkenntnis
Die Frage nach der Wahrheit begleitet uns seit Jahrhunderten.
Wie herausfordernd diese erkenntnistheoretische Differenz ist, zeigt sich schon daran, wie vielfältig «Wahrheit» ideengeschichtlich diskutiert wurde.
Würden wir eine Anhörung der wichtigsten Erkenntnistheoretiker im Bundesrat durchführen, würde das etwa so ablaufen:
Kant würde sagen: «Erwarten Sie keine absolute Wahrheit.»
Popper würde ergänzen: «Genau. Erst aus Irrtümern entsteht Wahrheit.»
Hegel würde entgegnen: «Auch bei der Wahrheit ist der Weg das Ziel.»
Nietzsche, abschätzig: «Was Sie suchen, ist nicht Wahrheit, sondern Sicherheit.»
Foucault – dann verzweifelt: «Sie produzieren doch Wahrheit!»
Und schliesslich Kierkegaard, überzeugt:
«Tun Sie, was Sie für wahr halten.»
Ja...
«Da steh' ich nun, ich armer Tor! Und bin so klug als wie zuvor!»
Sie sehen: Schon am Begriff der Wahrheit scheiden sich die Geister.
Ist Wahrheit absolut, relativ oder subjektiv?
Rollenverteilung zwischen Wissenschaft und Politik
Aber was sind eigentlich die Aufgaben von Politik und Wissenschaft?
Und welche Erwartungshaltung haben sie aneinander?
Wissenschaft und Politik haben denselben Rohstoff – Wahrheit – aber unterschiedliche Produkte.
Die Wissenschaft hat die Aufgabe, Erkenntnis zu schaffen: überprüfbar, nachvollziehbar, offen für Korrektur.
Die Politik hat die Aufgabe, Verantwortung zu übernehmen und zu entscheiden: aus Wissen Handeln zu machen – legitimiert und tragbar.
Die Wissenschaft will wissen, was ist.
Die Politik muss entscheiden, was sein soll.
Politiker erwarten von der Wissenschaft Eindeutigkeit, die ihnen Entscheidungen erleichtert.
Wissenschaftler erwarten von der Politik Rationalität, die ihre Erkenntnisse in Wirkung übersetzt.
Doch beides zugleich gibt es selten:
Nicht immer erleichtert mehr Information eine Entscheidung.
Und je entschlossener man entscheidet, desto weniger Raum bleibt für den Zweifel.
Demokratie statt Algorithmus
Als Politiker verstehe ich den Traum der Wissenschaft, dass ihre Arbeit Relevanz entfaltet.
Und als Wissenschaftler verstehe ich den Blick auf die idealtypische Politik, die aus Erkenntnis – wie durch einen Algorithmus – das bestmögliche Ergebnis generiert.
Doch Politik ist kein Rechenmodell.
Deshalb sind Forschende manchmal von «unwissenschaftlichen» oder «irrationalen» Entscheidungen enttäuscht.
Der determinierende Algorithmus in der Politik heisst aber nicht Wissenschaft, sondern Demokratie.
Sie ist weder darauf ausgelegt noch immer daran interessiert, die wissenschaftlich «richtigen» Lösungen hervorzubringen.
Sie liefert vielmehr Zustimmung – Repräsentativität und Vielfalt der Perspektiven.
Sie bildet Prioritäten und das Machbare ab.
Das ist kein Fehler, sondern Zweck.
Oder in ihrer Sprache: Das ist kein Bug, sondern ein Feature unserer Demokratie.
Versuchungen der Technokratie
Doch genau dieses Ringen fällt der Welt derzeit schwer.
Die Demokratie bringt Resultate hervor, die manchen unbequem sind.
Und wenn Demokratie zu «unerwünschten» Resultaten führt, wächst die Versuchung, sie zu umgehen – durch Technokratie, durch Gerichte, durch Expertengremien.
Manche spricht deshalb eine «Expertokratie» an – … insbesondere Expertinnen und Experten!
Das tönt zwar rational, ist aber demokratisch entkernt.
Diese Entwicklung geht einher mit der Versuchung, politische Verantwortung abzugeben – Entscheidungen zu automatisieren.
Doch wer Verantwortung abgibt, verliert auch Gestaltungsspielraum.
Absurd wird es, wenn Parteien Künstliche Intelligenz zu Vorsitzenden ernennen
oder Staaten Maschinen zu Ministern machen.
Wer trägt Verantwortung, wenn niemand mehr erklären kann, wie ein Entscheid zustande kam?
Automatisierung verspricht Effizienz, entzieht Politik aber den Diskurs – und damit ihre Legitimation.
Mathematische Parameter werden so zu zentralen politischen Fragen.
Nur noch jene, die den Code verstehen, können mitreden.
Demokratie wird zum Programm für Eingeweihte.
Macht hat, wer die Maschine kontrolliert.
Bedeutung des Diskurses
Der politische Diskurs ist kein unnötiger Umweg, der durch einen Algorithmus ersetzt werden kann.
Er ist ein unverzichtbarer Bestandteil demokratischer Legitimation.
Erst durch die öffentliche Debatte erhält eine politische Entscheidung ihre volle Berechtigung.
Gerade die Schweiz – diese Konsensmaschine – lebt davon, dass Diskussionen zu besseren Lösungen führen oder zumindest das Gefühl besserer Lösungen.
Und die Schweizer Bürgerinnen und Bürger besitzen ein feines Sensorium dafür,
was mehrheitsfähig ist und was nicht.
Darum dürfen wir Vertrauen haben in unser demokratisches System.
Wissenschaft, Moral und Glaubwürdigkeit
So wie wir auf der einen Seite Politik technokratisieren, überhitzen wir sie auf der anderen Seite moralisch.
Jede Regung des Lebens macht man zum Politikum: Religion, Geschlecht, Gerichtsurteile – alles wird Teil eines moralisierenden, schrillen Mainstreams.
Dabei soll auch die Wissenschaft für sich vereinnahmt werden.
Wissenschaft muss aber durch Neugier getrieben sein, nicht durch politischen Aktivismus.
Wir brauchen keine Wissenschaft, wenn die These die Ergebnisse beliebig verändert.
Wenn der Erkenntnisgewinn hinter einer politischen Absicht zurücktritt, verliert die Wissenschaft ihre Glaubwürdigkeit als Kompass für Politik und Gesellschaft.
Sie wird selbst politisch – und ihre Erkenntnisse werden verhandelbar.
Der Sinn dieser neuen Institution
Damit komme ich zur Daseinsberechtigung dieser neuen Institution.
Sehr wahrscheinlich hätte auch Einstein an diesem Ort seine Freude gehabt –
ein Ort, wo Wissen, Verantwortung und Neugier zusammentreffen.
Nicht um sich zu bestätigen, sondern um sich zu verstehen.
Einstein selbst sagte:
«Wissenschaft ohne Religion ist lahm, Religion ohne Wissenschaft ist blind.»
Übertragen auf unsere Zeit könnte man sagen:
«Wissenschaft ohne Politik ist wirkungslos – und Politik ohne Wissenschaft ist orientierungslos.»
Mein Wunsch ist, dass dieses Zentrum dazu beiträgt, Excel und Word, Erkenntnis und Entscheidung, Meinung und Wahrheit einander näherzubringen.
Denn Narrative ohne Fakten verkommen zur Ideologie, und Daten ohne Narrative bleiben im Elfenbeinturm.
Die Aufgabe dieser neuen School of Public Policy ist es, diese beiden Sprachen zusammenzuführen.
Nun zum Schluss:
Was hätten die genannten Erkenntnistheoretiker den Politikerinnen und Politikern wohl mit auf den Weg gegeben?
Sie hätten nach einem leidenschaftlichen Streit wohl einhellig gerufen:
«Entscheiden Sie!»
– und Kant hätte mahnend hinterhergeschickt:
«Aber bitte denken Sie zuerst nach...»
Ich gratuliere herzlich zur Gründung
und freue mich auf die Impulse, die von hier ausgehen werden.
Ich bin gespannt, ob der 23. Nobelpreis mit Beteiligung der ETH Zürich hier entsteht –
die Konkurrenz ist gross… und mächtig!