Nationale Föderalismuskonferenz
Zug, 13.11.2025 — Rede von Bundesrat Beat Jans

Es gilt das gesprochene Wort.
Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident
Sehr geehrter Herr Landammann, Herr Präsident der KdK
Geschätzte Regierungspräsidien, -rätinnen und -räte
Mesdames et Messieurs les membres du Conseil des États et du Conseil national
Mesdames et Messieurs les Parlementaires cantonaux
Stimati rappresentanti di Città e Comuni
Gentili Signore e Signori
Der Föderalismus zeigt sich schon in der Begrüssung. Aber längst nicht nur dort. Ich habe gegoogelt. So, wie man das früher gemacht hat: Prämienverbilligung, Religionsunterricht, Beton-Recycling, Corona-Regeln, Kita-Plätze, Erben, Biwakieren, Traktorprüfung, Skilager, Feiertage, Strafvollzug, Dialekt – und Militärkäseschnitten. Das und noch viel, viel mehr spuckt die Suchmaschine aus, wenn man den schweizerischsten aller Sätze eintippt: «Das ist von Kanton zu Kanton unterschiedlich.»
Der Föderalismus ist ein Grundpfeiler unseres politischen Systems. Er ist das Strukturprinzip und mit direkter Demokratie und Konkordanz das Wesensmerkmal unseres Staates. Darum freue ich mich sehr, heute hier zu sein. Die letzte Föderalismuskonferenz durfte ich 2021 als Basler Regierungspräsident eröffnen. Heute sage ich gewissermassen: Hello from the other side! And thank you! Die Organisation dieser Konferenz war, wie vieles hierzulande, eine Verbundsaufgabe: Ich danke dem Gastgeberkanton Zug, der Konferenz der Kantonsregierungen, dem Gemeinde- und dem Städteverband, den Parlamentsdiensten und dem Bundesamt für Justiz im Namen des Bundesrates für die grosse Arbeit.
Le fédéralisme aussi demande beaucoup de travail. Le nôtre tout spécialement. Ce qui le caractérise, c’est l’autonomie des trois niveaux. Et la manière dont nous collaborons. Il y a d’abord la subsidiarité : chaque tâche doit être accomplie là où elle peut l’être le mieux. Au niveau le plus bas possible, et aussi élevé que nécessaire. La Confédération ne fait que ce que la Constitution lui ordonne. Les cantons sont compétents pour tout le reste. Une autre particularité est la collaboration intense au sein de chaque niveau de l’État, et entre eux. Dans notre fédéralisme coopératif, il y a très peu de tâches qu’un des niveaux de l’État assume seul. Le système dual du fédéralisme américain, par exemple, est différent : la répartition des tâches y est plus stricte.
Notre fédéralisme s’est constitué dans le cadre de la lutte pour la création d’un État fédéral. L’objectif était l’unité dans la diversité. Le partage et la limitation du pouvoir qu’implique le fédéralisme était la solution – ou simplement le plus petit dénominateur commun.
Man stelle sich vor, wenn es anders wäre: Wenn der Bundesrat die Armee nach Bern schicken würde, weil ihm die ständigen Demos missfallen. Wenn das Bundeshaus-Ost auf Geheiss des Bundesrates abgerissen würde, um dort einen Ballsaal zu bauen. Oder wenn der Bundesrat gar im Alleingang eine Föderalismuskonferenz organisieren würde.
Liebe Föderalistinnen und Föderalisten
Und trotzdem – trotz alpengranitharter Verfassungsgarantien und kantonaler Käseschnitten-Rezepturen – geht in der Schweiz ein Gespenst um. Das Gespenst der Zentralisierung: Politikwissenschaftler warnen vor einer «schleichenden Zentralisierung», sehen den Föderalismus bedroht. Und auch hier im Saal liegt sie – quasi ins Motto gegossen – bedrohlich in der Luft. Die Angst ist so alt wie unser Föderalismus selbst: Sie wurde 1848 kritisiert, bei der Verfassungsrevision 1874 beklagt und ist seither Thema an jeder Föderalismuskonferenz.
Was offensichtlich stimmt ist, dass die Aufgabenpalette des Bundes immer breiter wird. War der Bund anfänglich nur für Aussenpolitik, Verteidigung und den Binnenmarkt mit Geld-, Zoll- und Postwesen zuständig, sind seither doch ein paar Sachen dazugekommen. Besonders stark war diese Entwicklung hin zu mehr Bund am Anfang des letzten Jahrhunderts. Aber auch zwischen 2011 und 2016 verlangten mehr als zwei Drittel der einschlägigen Vorstösse in National- und Ständerat nach einer Bundes-Lösung. Nur gerade jeder zehnte Vorstoss drängte in die entgegengesetzte Richtung. Am stärksten ist die Verschiebung bei der Rechtsetzung, weniger ausgeprägt im Fiskalischen und Administrativen.
Reisst der Bund Kompetenzen an sich? Schieben die Kantone Probleme ab? Ich sage es mal so: Es gibt einige, die drücken und einige, die ziehen. Ein Stück weit ist die Verschiebung hausgemacht.
Da ist zum einen die Bevölkerung. Zwischen den beiden Basel etwa, gibt es eine Strasse: Eine Strassenseite liegt im einen, die andere im anderen Kanton. Kantone wachsen immer mehr zusammen. Bei aller Skepsis gegenüber Bundesbern ist es deshalb auch verbindender Volkssport, sich – zum Beispiel in Schnitzelbänken – über den nicht mehr zeitgemässen «Kantönligeist» aufzuregen und einheitliche Regeln zu fordern. Auch jede Volksinitiative hievt etwas auf die eidgenössische Ebene.
Auch Politikerinnen und Politiker verhalten sich ambivalent und tragen zur Entwicklung bei, die sie beklagen. Denn ob Kantonsvertreterinnen und -vertreter auf kantonale Souveränität pochen oder nach dem Bund rufen, hängt von Situation und Thema ab. Oft wird der Bund aktiv, wenn die Kantone mit Konkordaten nicht weiterkommen. Und dass Bundesparlamentarier versuchen, etwas zur Bundes-Aufgabe zu machen, liegt in der Natur ihres Amtes.
Wir müssen uns also alle an der eigenen Nase nehmen.
Der grössere Druck kommt aber von woanders: Die Welt verändert sich. Technologischer und sozialer Wandel machen Menschen mobiler, die Welt kleiner. 1848 war Bern für einen St. Galler gefühlt mindestens so weit weg, wie für uns heute Brüssel. Alles wird schneller, vernetzter, verdichteter. Abhängigkeiten werden vielschichtiger, Probleme komplexer. Lösungen sind immer seltener einfach und lokal realisierbar. Das macht Politik anspruchsvoller. Und zwar auf allen Ebenen.
Landesverteidigung ist heute viel mehr als Bunker, bewachte Grenzen und Panzer. Mit Cyberangriffen, Desinformationskampagnen und Terroranschlägen ist die Bedrohungslage diffuser und unberechenbarer geworden. Zur Landesverteidigung braucht es vermehrt die Unterstützung kantonaler und kommunaler Behörden.
In der Schule geht es längst um viel mehr, als den Kindern Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen. Erwartungen und Ansprüche sind grösser, Bedürfnisse und Lernformen vielfältiger. Familien zügeln über Kantonsgrenzen,
alles ist mobiler, der Koordinationsbedarf nimmt zu.
Auch im Gemeindehaus war es früher einfacher. Nach einer halben Stunde war die Gemeinderatssitzung fertig und es ging zum Jassen in den «Bären». Den Rest machte der Dorflehrer und Schreiber nebenbei.
Nein, früher war nicht alles besser. Aber anders. Heute ist es mehr. Das erklärt auch, warum nicht längst alles beim Bund ist. Denn nach 175 Jahren stetiger Zentralisierung müsste eigentlich unterdessen alles zentralisiert sein. Dass wir davon weit entfernt sind, zeigt meine Google-Suche: Opferschutz, Steuern, Waffenbesitz, Spitäler, Matura, Hausratsversicherung, Kantonalbank, Bauen, Angeln, Nacktwandern und viel mehr liegt noch immer in kantonaler Kompetenz. Kantone und Gemeinden haben nach wie vor zu tun.
Liebe Verfechterinnen und Verfechter der Vielfalt
Ich stelle eine These auf: La centralisation n'existe pas!
Die Kantone geben nicht Aufgaben an den Bund ab und der Bund kann nicht von Bern aus «durchregieren». Kantone mutieren auch nicht zu blossen Vollzugsorganen, sondern haben nach wie vor viel Gestaltungsspielraum. Aber, und das ist der Punkt: Es gibt immer mehr Verbundsaufgaben. Es braucht heute bei vielem viele. Ein Beispiel aus meinem Departement ist die Bekämpfung von häuslicher und sexueller Gewalt. Einige Kantone haben viel gemacht, sind vorangegangen. Jetzt wird auch der Bund stärker involviert und aktiv. Es geht nicht ums Zentralisieren, sondern eigentlich ums Gegenteil: ums Involvieren, Integrieren, Kooperieren.
Der Bund ist nicht das Ende der Fahnenstange. Auch darum ist «Zentralisierung» das falsche Wort. Auch im Bundeshaus können wir vieles nicht mehr allein lösen, sondern nur gemeinsam – gemeinsam mit Ihnen und immer häufiger gemeinsam auf europäischer Ebene. Gerade auch in meinem Departement.
Nehmen wir die Kriminalitätsbekämpfung: Erfolgreiche Polizeiarbeit ist längst international, vor allem im Rahmen von Schengen/Dublin. Was nicht heisst, dass Bund und Kantone fein raus sind – Stichwort POLAP. Wir müssen die Zusammenarbeit
über alle Ebenen hinweg forcieren und optimieren.
Auch die Asyl- und Migrationspolitik lässt sich nicht national lösen. Die Zusammenarbeit im Rahmen von Schengen/Dublin und der Migrations- und Asylpakt der EU zeugen davon. Das Kontaktorgan mit den Kantonen, das auch den Gemeinde- und Städteverband einbezieht, ist ein schönes Beispiel für gelebten Föderalismus.
Mit Kantonen sowie Gemeinde- und Städteverband habe ich die Asylstrategie aufgegleist. Ende November findet die erste Etappe dieses Prozesses mit der Asylkonferenz ihren Abschluss, die Massnahmen folgen ein Jahr später. Einigen geht das offenbar zu langsam. Sie reichen auf allen Ebenen Vorstösse ein, um den Druck auf den Bund weiter zu erhöhen. Aber überhastete Massnahmen auf Bundesebene bringen nichts – erst recht nicht, wenn sie verfassungswidrig sind. Sie werden von Gerichten gestoppt oder führen zur Problemverlagerung in Kantone und Gemeinden. Sprich: sie wirken nicht, wie sie sollten. Um Asylverfahren, Rückführungen und Arbeitsintegration zu beschleunigen – was wir alle wollen – müssen wir am selben Strick und in dieselbe Richtung ziehen. Wir müssen Asylpolitik miteinander machen, statt gegeneinander.
Mesdames et Messieurs, chers collègues,
Le fédéralisme n’est pas pour les âmes sensibles. Le fédéralisme est un défi permanent. Le fédéralisme est complexe. En ces temps troublés, où les forces autoritaires et les solutions apparemment simples – et donc centralisées – ont le vent en poupe, le fédéralisme peut sembler presque anachronique.
Mais j’en suis sûr : le fédéralisme a de l’avenir !
Föderalismus hat Zukunft! Wenn wir es schaffen, uns auf den Kern unseres Föderalismus zu besinnen und aus der Not wieder eine Tugend zu machen: Unser Föderalismus ist kein Zustand, sondern ein Arbeitsmodus. Unsere Aufgabenteilung ist nie fix, sondern wandelt sich ständig. Und diese Dynamik wird noch zunehmen. Damit zu hadern, lähmt uns nur. Unser Föderalismus ist ein Mindset. Es braucht Flexibilität und Offenheit. Wir müssen zusammenarbeiten und andere – auch andere föderale Ebenen – involvieren. Föderalismus muss man leben.
Unser Föderalismus lässt einem nicht zurücklehnen. Wir müssen zusammenarbeiten und gleichzeitig auf jeder Ebene den Spielraum nutzen. Auch bei grossen Themen. Der Kampf gegen den Klimawandel etwa, wird international verhandelt, aber lokal gewonnen. Laufend kommen neue Aufgaben dazu – zum Beispiel das Wohnen. Probleme gibt es genug.
Unser kooperativer Föderalismus ist ein komplexes, integrierendes System. Ideal für eine komplexe Welt mit komplexen Herausforderungen. Ideal auch, um Menschen abzuholen und an der Lösungsfindung zu beteiligen, damit sie die staatlichen Antworten auf diese komplexen Herausforderungen mittragen.
Nehmen wir das EU-Paket. Es betrifft alle Kantone, weil es in der ganzen Schweiz Firmen gibt, die mit der EU Handel treiben und Personal aus der EU rekrutieren. Aber die direkte Betroffenheit ist bei den Grenzkantonen natürlich deutlich grösser, nicht nur wegen den Grenzgängern.
Als Regierungspräsident im Dreiländereck hatte ich täglich mit Projekten zu tun, die Landesgrenzen überschreiten: Verkehr, Tourismus, Umweltschutz, Wissensaustausch, Rettung, Strafverfolgung. Die Grenzkantone sind dabei auf die Gemeinden jenseits der Landesgrenze angewiesen. Sie brauchen nicht nur Baden-Württemberg, Grand Est oder die Lombardei, sondern auch Berlin, Paris und Rom.
Wenn wir unseren Nachbarländern jetzt mit einer Absage an das EU-Paket signalisieren, dass wir nicht an einer Fortführung der Zusammenarbeit interessiert sind, müssen wir uns nicht wundern, wenn sie die Schweiz links liegen lassen. Das wäre nicht nur für die Bevölkerung in den Grenzkantonen ein Problem, sondern zum Nachteil des ganzen Landes. Es würde unsere Aussichten in fast allen politischen Bereichen verschlechtern – weit über den Binnenmarkt hinaus.
Mit dem EU-Vertragspaket hingegen gewinnen wir Handlungsfähigkeit und entscheiden weiter frei. Ja, bei den Binnenmarktabkommen machen wir Konzessionen. Wir müssen mit verhältnismässigen Ausgleichsmassnahmen rechnen, wenn wir Änderungen des EU-Rechtes in diesem Bereich nicht übernehmen. Warum sollten wir das trotzdem eingehen? Weil wir viel dafür bekommen: Rechtssicherheit für unsere Unternehmen und die Möglichkeit, Probleme weiterhin freundnachbarschaftlich zu lösen.
Wichtig ist, dass die Kantone in die Bilateralen Beziehungen gut eingebunden sind, jederzeit wissen, was geht und sich in Bern und Brüssel einbringen können.
In diesem Sinn tun wir doppelt gut daran, unsere Beziehungen zur EU weiterzuentwickeln: Es ist gut für die Schweiz, weil es uns als kleines Land stärker und handlungsfähiger macht. Es ist aber auch gut für Europa, weil wir unser Knowhow des kooperativen Föderalismus einbringen können.
Meine Damen und Herren
«Das ist von Kanton zu Kanton unterschiedlich.»
Der Satz könnte in der Präambel der Bundesverfassung stehen. Unser Föderalismus zeigt, dass Unterschiede verbinden können. Föderalismus schafft Stabilität. Föderalismus ist ein Ideen-Labor. Föderalismus macht uns resilient. Föderalismus zwingt uns zur Zusammenarbeit. Genau darum sind Anlässe wie dieser so wertvoll: Man sieht sich, diskutiert, knüpft Kontakte, fasst Vertrauen.
Ich bin – auch from the other side – überzeugt: Föderalismus führt zu besseren, weil breit abgestützten Lösungen. Und damit ist Föderalismus auch ein entscheidendes
und bewährtes Rezept gegen Politikverdrossenheit.
Vielen Dank!